Franz Joseph van der Grinten:

„Rain-Flug“, das Doppelwort, das dieser Ausstellung ihren Titel gibt, kann als Lautgebilde unterschiedliche und jedenfalls komplexere Assoziationen wecken. Es kann den Fluß evozieren, an dessen Ufer wir uns befinden, oder den Feldrand. Es kann die Lineaturen umfassen, die wir liegend unter uns wahrnehmen, und die Linie, die wir pflügend selber ziehen. In jedem Fall umspielt das Wortspiel das Erlebnis der Grenze, im kleinen wie im großen, örtlich wie weitgreifend, äußerlich wie im inneren des Bewußtseins. Jedes Welterlebnis ist ja ein persönliches, inneres. Das Bewußtsein erst schafft die Welt, indem es das äußerlich Existierende, allgemeine zum persönlich-individuellen dessen, der es wahrnimmt, in eine Beziehung setzt, die willkürlich und gültig zugleich ist. Grenzen sind immer imaginär, real nur durch ihre Anerkennung. Sie existieren nur, weil es jenseits ihrer Linien weitergeht. Schon sie wahrzunehmen, bedeutet sie innerlich zu überschreiten. In unserer Gegend können wir, ohne uns von unserem Standpunkt zu entfernen, in drei der vier Himmelsrichtungen über den Rand unseres Landes hinausblicken. Und es ist ja nicht, wie auf den alten Tranchot-Karten, die Dini Thomsen ihrer Arbeit zugrundegelegt hat, jenseits des Grenzpfahls die Leere, das Nichts, sondern jede der alteingesessenen Familien weiß einen großen Teil ihrer Verwandtschaft seit alters her auf der anderen Seite. Im Zusammentreffen derjenigen, die zueinander gehören, verwischt sich die Trennungslinie. Und wenn sie sich in unserer Zeit wirklich geöffnet und abgebaut hat für alle, mag auch die Befremdung der Aversion sich auflösen. Auch das Böse gibt es ja nicht nur auf der einen Seite. Zu keiner Zeit wäre es so gewesen. Dini Thomsen mag dies alles umso bewußter sein, weil sie als Holländerin in Deutschland ihren Platz gefunden, ihre persönliche Welt eingerichtet hat.
Der Rain und der Rhein, die Wahrnehmung der Grenze im kleinen wie im großen. Pflügend zieht sie sich selbst und verschiebt sich von Furche zu Furche, die der Pflügende schreitend weiterführt, jährlich zweimal neu. Und der Fluß, auch er wirkt auf die Grenze ein, die er zieht. In weiten Zeiträumen, wie sie sich auf den Landkarten spurenhaft bezeugen, geht er mit ihr verändernd um, mit all seiner Macht und Kraft. Kaum vermögen wir, seine Bahn festzulegen. Aber mag es des Sprunges, mag es des Brückenschlages bedürfen, um Grenzlinien zu überqueren, die Erde die uns trägt, trägt auch den Zaun, der ihre Breiten teilt. Und sie läßt das Wasser, das dahin treibt, über ihren Leib strömen, querüber, ohne sich von den Gliedmaßen zu lösen, die jenseits der Nässe sich erstrecken. Immerhin ist ein Fluß eine wirklichere Grenze als ein Zaun. Ihn, als es unsere Brücke noch nicht gab, im kleinen Fährboot zu überqueren, gab das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Und gerade hier bei uns ist ja der Rhein in der größeren Zeitspanne unserer Geschichte Grenze gewesen, der Römer gegenüber den Germanen, der Franken gegenüber den Sachsen. Und wenn man in der Westregion manchmal zu hören bekommt, jenseits des Rheines liege Vorderasien, so ist der Kern dieses Scherzes doch das erinnerte Gefühl der Andersartigkeit.
Alles ist in unsere Hand gegeben. Und jede Straße die wir bauen, jeder Kanal den wir graben, jeder Zaun den wir setzen, verändert das Antlitz der Erde, spurenhaft für alle Zeit. Der Blick aus dem Flugzeug offenbart das Muster der Felder in seiner willkürlichen Gewachsenheit ebenso wie den ordnenden Eingriff planhafter Regulierungen. Erdnah gehend, würden wir uns dieser Unterschiede kaum bewußt.
Das ist es aber, was Dini Thomsen in den Bildern dieses Ensembles leistet: Bewußtmachung. Sie tut es auf unterschiedliche Weise und sie tut es behutsam – da wird nicht aufgespielt. In die Landkarten und Pläne, die sie zugrundelegt, malt und zeichnet sie nicht unmittelbar hinein, sondern ihre Hinzufügungen, Regulierungen, Akzentsetzungen sind auf eine darübergelegte transparente Folie aufgetragen. Es entsteht eine Schichtung, die durchlässig ist, auch in der Wahrnehmung des Betrachters. Eine Tiefendimension, die der Flächigkeit widerspricht. Meist flächig aufgetragen, betont ihre malerische Hinzufügung den Uferrand, den Schwund einer Verwerfung, die Isolation des Einzelfeldes, innerhalb des Musters seiner Umgebung. Das ist das Eine, das Bild als eines. Draußen entspricht dem die Bedeckung der Sockelsteine im Park mit schwarzen Pigmenten. Bei den Koppelbildern, den Diptypchen ist die Karte unberührt geblieben und der Gegenflügel ist malend mit einer einzigen Farbe modulierend, aber homogen bedeckt. Es entsteht eine dialektische Spannung zwischen der Kröpfung der Zentren in der Weite der Landkarte und der vermeintlich ungebrochenen Weite der ungegliederten Farbfläche, die sich dann doch ihrerseits als in eine beengende Eingrenzung gespannt erweist. Bilder aus mehr als zwei Einzelteilen variieren das Prinzip. In ihnen ist gelegentlich auch das erdhaft wachstumsgemäße Farbprogramm vom Schwarzgrau über warmgebrochenes Grün bis zu Ocker. Sonst ist, zumindest im Ensemble dieser Ausstellung, die Farbigkeit verhalten und den graphisch vorgegebenen Komponenten nah. Manche der Bilder finden sich zu Gruppen, auch inhaltlich sinnbezogen, manche bilden Paare, und der wechselnde Rhythmus von Vereinzelung, Abstand und Zusammenrückung ist eine andere, weitere Manifestation des Atems, aus dem diese Bilder ihr Leben haben. Immer ist die Topographie offengelegt: der Reichswald, die Flußaue, die Orte. Und neben Bildern, die den Längsverlauf des Rheins in den Blick genommen haben, finden sich solche, die das sich verändernde Querschnittprofil seines Bettes bewußt machen. Keine Landschaften im eigentlichen Sinne, aber Bilder der Landschaft als Bezeugung ihres Erlebens durch jemanden, der mit Bewußtheit in ihr lebt. Dini Thomsen läßt uns hier an diesem Erleben teilhaben. Vielleicht weckt sie uns zu größerer eigener Bewußtheit.